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Die Oberuferer Weihnachtsspiele

Alljährlich führen die Waldorfschulen für ihre Schüler die Oberuferer Weihnachtsspiele auf. Was ist das Besondere dieser Spiele? Warum sind sie wichtig? Sind sie nicht "altmodisch"?

Ich möchte hier einige Gedanken entwickeln, warum sie mir bedeutungsvoll geworden sind.

Oberufer war ein Dorf auf der Donauinsel Schütt in der Nähe von Preßburg (Bratislava). Manche Textstelle läßt auf eine Verbindung zum Bodenseeraum schließen und so kann man annehmen, dass sie von dort aus mit Siedlern nach Osten kamen. Diese bewahrten die Spiele als Teil ihrer nationalen Identität und erhielten sie sich durch Jahrhunderte hindurch unverfälscht, ohne wie an anderen Orten nach dem Zeitgeschmack Veränderungen vorzunehmen. Im 17. Jahrhundert waren diese Spiele weit verbreitet, jedoch weiß man nicht, wann sie eigentlich entstanden sind. Sie gehörten eben zur Volkskultur und ließen gerade bei den Menschen, die nicht schreiben und lesen konnten, die natürlich auch das Kirchenlatein nicht verstanden, ein bildhaftes Verstehen für das Christentum entstehen. So ist auch in einer Vorrede angedeutet, dass die Geistlichen diese Spiele, in denen sich die einfachen Menschen die Bilder des Christentums aneigneten, allenfalls duldeten.

Karl Julius Schröer sammelte sie als Kostbarkeit der Volkskunst Mitte des 19. Jahrhunderts. Rudolf Steiner überarbeitete sie und seiner Anregung ist es zu verdanken, dass sie seit 1910 regelmäßig an vielen Orten gespielt werden. Eine gedruckte Fassung von 1693, die erst in den letzten Jahrzehnten aufgefunden wurde, erhellt heute manche Textstelle, die im Lauf der Zeit unverständlich geworden war.

Inzwischen sind die Spiele insbesondere in den Waldorfschulen "Tradition" geworden, doch geschieht dies nicht aus "Traditionspflege". In den Spielen sprechen Urbilder zu den Seelen der Kinder und Erwachsenen - Urbilder, die im äußeren Bild etwas ansprechen, was eigentlich ein Vorgang oder eine Situation im Menscheninnern selbst ist.

Etwas von dieser Urbildlichkeit in der Komposition der Spiele möchte ich im folgenden für das Paradeis- und dann das Christgeburtsspiel andeuten.

Das Paradeisspiel hält sich eng an die biblische Schöpfungsgeschichte. Dort ist konsequent geschildert, wie das Schaffen zugleich mit einer Differenzierung, einem Scheiden in zwei Pole verbunden ist:

"Und Gott sprach/ Es werde Licht / Und es ward Licht/ Und Gott sah/ dass das Licht gut war./ Da scheidet Gott das Licht von der Finsternis/ und nennt das Licht/ Tag/ und die Finsternis/ Nacht."

Indem Gott schafft, setzt er etwas aus sich heraus, das er anschauen kann: "Und Gott sah, dass es gut war." Bewußtsein heißt immer differenzieren, unterscheiden - ohne Finsternis könnten wir das Licht nicht erkennen. So schafft Gott in immer neuen Differenzierungen, in vielen Einzelheiten die ganze Welt.

Zum Schluß schafft er den Menschen nach seinem eigenen Bild "und setzt ihn in das Paradeis". Der Mensch ist damit Mittelpunkt und er ist zunächst eine Ganzheit: Er ist androgyn, "Mann-Frau".

Doch dann führt Gott die Schöpfung noch einen Schritt weiter: Aus dem ganzen (d.h. androgynen) Menschen nimmt er die Mitte (eine Rippe als Teil des Brustkorbs) und formt daraus Eva. Wer meint, die Schöpfungsgeschichte sei parteiisch und stelle die Schaffung der Frau als Teil des Mannes dar, möge die Bilder einfach unbefangen auf sich wirken lassen: aus dem ganzen, dem männlich-weiblichen Menschen entsteht Eva aus der Mitte - und Adam, dem nun aber etwas von der Kraft der Mitte fehlen muß. Man kann lange darüber nachsinnen und dann ahnen, wie tief und treffend männlich und weiblich dadurch charakterisiert werden!

Durch die Einwirkung der Schlange führt dann aber der Mensch selbst die Schöpfung noch einen Schritt weiter: er ißt vom Baum der Erkenntnis - und weiß nun Böses und Gutes zu unterscheiden. In der Sprache, im Benennen, hat der Mensch die göttliche Schöpfung nacherlebt, nachgeschaffen. Nun hat er aber das Prinzip des Unterscheidens, des Ur-Teilens in sich selbst aufgenommen. Seine Augen werden aufgetan, der Mensch erwacht und sieht jetzt sich selbst im Gegensatz zu seinem Schöpfer und der Schöpfung: da schämt er sich seiner Nacktheit - d.h. seiner Geschaffenheit. Mit der Urteilsfähigkeit ist die Kindheit beendet, das Paradies verloren.

Sucht man eine Gebärde, mit der man diesen Weg charakterisieren könnte, könnte man folgende Form finden: Ausgehend von einem gemeinsamen Ursprung führen zwei Richtungen auseinander, zur Erde. Adam stellt sich so mit beiden Beinen auf die Erde, wenn Gottvater sagt: "Tritt auf deine Füße eben".

Das ist eurythmisch gesprochen die Gebärde des Lautes A, die ja mit der Form des Druckbuchstabens weitgehend übereinstimmt. Die Stimmung des Lautes A als des ersten unseres Alphabets durchzieht das Paradeisspiel: im Staunen Adams, aber auch im Wehklagen über den Verlust des Paradieses. Am Ende dieses Spiels führt Adam nochmals die A-Gebärde aus: diesmal aber mit den Armen und nach oben ("Da er seine Hände aufheben wird..."). Es ist eine Zukunftsverheißung auf eine ferne Zeit, in der der Mensch wieder ganz sein wird.

Ganz anders dagegen die Stimmung im folgenden Spiel, dem Christgeburtspiel. War das Paradeisspiel das Spiel der Zweiheit, der Ent-zweiung oder Ur-teilung, so ist das mittlere der Weihnachtsspiele nach der Dreiheit aufgebaut. Was zuvor entzweit wurde, wird nun von einer neuen Mitte verbunden oder erfüllt. Josef, der Mann geht durch ein Einsamkeitserlebnis, wenn er sich mit der Forderung Kaiser Augustus konfrontiert sieht, aber weder über äußere Güter noch Körperkräfte verfügt. Auch Maria kommt an ein Ende ihrer Kräfte auf dem Weg nach Bethlehem durch Nacht und Kälte - und erst recht, als keine Herberge gefunden werden kann. Und sehr liebevoll, aber doch treffend, sind Mann und Frau charakterisiert, wenn Josef vorauseilend "vergißt", dass Maria in ihrem Zustand nicht so schnell laufen kann...

Zwischen beide, zwischen Mann und Frau hinein wird das Kind geboren.

Im Bild des Sechssterns wirken zwei Dreiecke, ein nach oben und ein nach unten weisendes zusammen. Sie können stehen für das Ineinanderwirken von Himmels- und Erdenkräften, auch von männlich und weiblich. Beides wirkt zusammen, wirkt ineinander - aber doch als Polarität. Als Neues wird das Kind geboren: es ist zunächst ein Ganzes, ist gleichermaßen himmlisch wie irdisch, männlich wie weiblich (zumindest spielt das Geschlecht in der ersten Kindheit noch keine Rolle). Der Fünfstern, das Pentagramm, kann als Symbol gesehen werden für den ganzen Menschen, der alle Polaritäten harmonisch ausgleicht. Im Pflanzenreich ist die Rose nach dem Prinzip des Fünfsterns gebildet und wird der Geburt Christi als Symbol beigesellt - wie die Lilie, die den Sechsstern in sich trägt, der Verkündigung, in der Geistiges und Irdisches zusammenwirken.

Wie aber geht nun der Mensch mit dem um, was in ihm als neuer Mensch geboren werden soll? Auch auf diese Frage gibt das Spiel in Bildern Antwort: Der eine, ein alter Freund, weist es ab: die alten Bande aus der Vergangenheit tragen nicht mehr - er ist mit anderen "Gästen" beschäftigt. Dem Nächsten ist es viel zu armselig, als dass er ihm Wohnung geben würde: schroff weist er die Bettelleute zurück. Und der dritte? Marias Klagen erweckt Mitleid in ihm - und er läßt die Geburt bei sich stattfinden - aber nicht da, wo er selbst wohnt (da ist schon alles "besetzt"!) - sondern da, wo dumpfes, gemüthaftes Seelenleben wohnt: im Stall, bei Ochs und Esel. Und wir? wo lassen wir die Geburt des neuen, zukünftigen Menschen in uns zu? Ist bei uns nicht auch alles besetzt, von der Geschäftigkeit des Alltags erfüllt? So lautet die Frage, die uns, höchst aktuell, die Wirte des Christgeburtspiels stellen.

Die Hirten dagegen gehen einen Weg und finden schließlich die Krippe. Derb sind sie, stehen ganz im Leben und die Frömmsten sind sie auch nicht. Aber sie suchen eben. Auch hier sind es drei und man möge beim Spiel einmal verfolgen, wie sie zusammenwirken: Zwei streiten und der dritte vermittelt dann jeweils. So wirkt ein Kompositionsprinzip durch das ganze Spiel hindurch. Nicht nur durch den Inhalt, sondern gerade durch diese Bewegung, die der Zuschauer ja mitmacht, wirken so die Spiele und dadurch sind sie echte Kunstwerke, oder in einem noch tieferen Sinn: sie führen uns in geistige Realitäten.

Abschließend möchte ich noch einen Gedanken anfügen, der mir doch sehr bedeutsam erscheint: "Wenn Crispus, der vierte der Hirten, sich auf den Weg machen will, fragt er: "Is weit dahin?" und bekommt scherzhaft die Antwort: "Bis d' hikommst!"

Darin steckt tiefe Wahrheit für alle, die die Botschaft hören und sich auf den Weg machen wollen: unser eigener Lebenslauf wird dieses Ziel haben: Bis d' hikommst!

(Martin-Ingbert Heigl)

Wenn Sie diesen Text abdrucken möchten, fragen Sie bitte bei mir an:

Martin-Ingbert.Heigl@gmx.de

Ein weiterer Text zu den Kompositionsprinzipien des Christgeburtsspiels wurde in der "Erziehungskunst", Dezember 2014 abgedruckt. www.erziehungskunst.de/artikel/von-hirten-und-wirten/